Dr Volkmar Friedrich BergerHeute feiert Dr. Volkmar Friedrich Berger seinen 80. Geburtstag.
Wir gratulieren herzlich zum Freudentag.

Lebenslinien

Am 3. Februar 1931 wurde ich in Mediasch geboren. Dennoch bin ich ein „waschechter“ Bistritzer, denn beide Elternteile und deren Vorfahren waren Bistritzer.

 

Dass ich in Mediasch geboren wurde, hängt mit dem Beruf meines Vaters zusammen. Mein Vater hatte zuerst in Wien und in Leipzig Handelswissenschaften studiert und anschließend studierte mein Vater Rechtswissenschaften in rumänischer Sprache auf der Universität in Klausenburg. Wenn man selbständiger Rechtsanwalt werden will, muss man vorher einige Jahre in einer Rechtsanwaltskanzlei als Konzipient arbeiten.

 

Die Konzipientenzeit absolvierte mein Vater in der angesehenen Advokatur von Dr. Ipsen in Mediasch. Dies ist also der Grund, warum ich in Mediasch auf die Welt gekommen bin. Zur Geburt meines um eineinhalb Jahre älteren Bruders Richard ist meine Mutter eigens nach Bistritz gefahren.

 

Ende Mai 1938 übersiedelte unsere Familie nach Bistritz, wo mein Vater seine eigene Rechtsanwaltskanzlei im Hause seines Vaters in der Ungargasse eröffnete.

 

In Bistritz, meiner eigentlichen Vaterstadt, besuchte ich die vier deutschen Elementarklassen und die erste und zweite Klasse unseres schönen, deutschen Gymnasiums, auf das wir zu Recht sehr stolz sein können.

 

Dann kam der alles verändernde September 1944. Mein Vater war zu dieser Zeit bei der ungarischen Armee (Honvéd). So musste meine Mutter mit uns zwei Buben, damals dreizehneinhalb und fünfzehn Jahre alt, und mit so viel Gepäck, als wir allein tragen konnten, innerhalb kürzester Zeit alles vorbereiten und irgendwie nach Dej fahren, wo wir am 12. September 1944 in einen dort bereit stehenden Flüchtlingszug einsteigen sollten. Am 11. September brachte uns ein deutsches Wehrmachtsauto von Bistritz nach Dej.

 

In der Nacht vom 11. auf den 12. September wurde der Bahnhof und mit ihm unser dort wartender „Evakuierungszug“ von russischen Fliegern bombardiert und total zerstört. So fuhren wir in zwei Wochen auf „Panje“- Wagen gerade vorbeiziehender „Hiwis“ ( russische Hilfsfreiwillige ), insbesondere bei Nacht, wegen der Tiefflieger, von Dej bis Budapest.

 

Von Budapest wurden wir auf einem Lastwagen der deutschen Wehrmacht nach Ödenburg im Burgenland gebracht. Ödenburg war eine Art Sammelstelle der Flüchtlinge aus Nordsiebenbürgen. Hier wurden die schulpflichtigen Kinder klassenweise zusammengefasst und mit ihren siebenbürgischen Lehrern am 6. November ins Sudetenland, Reichenberg und Umgebung, gebracht. Organisationsform: KLV- Lager, d.h. „Kinderlandverschickung“.

 

Die dritte Gymnasialklasse, in der ich war, kam mit ihrem Professor, Christian Schneider, nach Thamühl am See. Hier hatten wir einen fast ganz normalen Unterricht, und obwohl das Schuljahr erst am 6. November begonnen und für mich bereits am 15. April 1945 geendet hatte, bekam ich ein Jahreszeugnis über die ganze dritte Gymnasialklasse.

 

Meine Mutter und mein Bruder, der ein Handwerk erlernen wollte, wurden am 4. Dezember mit einem Transport von Ödenburg nach Oberweis bei Gmunden gebracht.

 

Am 15. April kam auch ich und am 21. Mai 1945 auch mein Vater, der aus der amerikanischen Gefangenschaft in Linz ausgebrochen war, nach Oberweis.

 

Unser Quartier, in dem wir die  nächsten dreieinhalb Jahre wohnten, bestand aus  einem Durchgangszimmer  und aus einem nicht beheizbaren Nebenraum. Das Durchgangszimmer war unser Wohnzimmer, weil es  von einem Eisenofen beheizt werden  konnte, der gleichzeitig auch unser Kochofen war. Das Wasser zum Waschen und Kochen mussten wir uns mit Eimern von dem etwa 200 Meter entfernten Bauernhof holen.

 

Dieses Wohnen auf engstem Raum hatte aber für mich auch Vorteile: ich lernte mich zu konzentrieren, denn auf dem einzigen Tisch wurde gekocht, gebügelt, gegessen, Karten gespielt, Besucher bewirtet und gelernt, d.h. da musste ich meine Schulaufgaben machen.

 

Die Zeit nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches war für uns wie wohl für alle deutschen Flüchtlinge ein sozialer Tiefstand. Was wir auf die Lebensmittelkarten bekamen, reichte nicht aus, um satt zu werden. So ging man „hamstern“, was ich als „Betteln gegen Bezahlung“ übersetzen würde. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine erfolgreichste und gleichzeitig lehrreichste Hamstertour.

 

Ich ging mit meinem Sprüchlein „Bäuerin, können Sie mir eine Schnitte Brot, oder ein Ei oder etwas Speck verkaufen?“ zu weit mehr als zu 24 Bauernhöfen, denn nicht überall bekam ich etwas, und mein Vormittagseinkauf war ein voller Erfolg: 17 Schnitten Brot, 5 Eier und zwei Schnitten Speck. Als ich dann das großartige Ergebnis dieser Hamstertour vor meiner Mutter auspackte, jubelte diese nicht, sie brach vielmehr in Tränen aus.

 

So wurde plötzlich auch mir unsere Situation bewusst. Eine andere Methode zu mehr Nahrungsmitteln bestand im Sammeln jener Ähren, die nach der Ernte auf dem Weizen- oder Roggenfeld liegen geblieben waren. Diese wurden dann händisch mit einem Dreschflegel gedroschen, mittels eines großen Siebes wurden die Körner von der Spreu getrennt und dann wanderte man mit einigen Kilo Getreide mehrere Kilometer weit  zur nächsten Wassermühle, um das Getreide zu Mehl mahlen zu lassen.

 

Doch zurück zu mir. Mein Ziel war es, das Gymnasium mit der Matura abzuschließen und in Wien an der Technischen Hochschule, wie die heutige Technische Universität damals hieß, Elektrotechnik zu studieren. Beiden Zielen stellten sich große Hindernisse entgegen. Zunächst wurde ich wegen Platzmangel ins Gmundner Bundesrealgymnasium nicht aufgenommen. Es bedurfte der Einschaltung eines den Flüchtlingen wohlgesinnten Professors des Gymnasiums, damit ich dann doch aufgenommen wurde.

 

Als mein Vater mir diese freudige Nachricht überbrachte, tat er das mit den Worten: „Du bist jetzt durch einen Fürsprecher aufgenommen worden. Jetzt schau zu, dass Du uns - damit meinte er den Flüchtlingen und namentlich den Siebenbürgern - keine Schande machst.“ Ich war über diese so deutliche Aufforderung im Befehlston überrascht, ja etwas schockiert. Ich hatte bisher immer das zweitbeste, einmal das drittbeste Zeugnis der Klasse. Ich habe aber diese Aufforderung meines Vaters sehr ernst genommen und bis zur Matura sehr intensiv gelernt, ja „gestrebert“, was sich direkt nach der Matura lohnend bemerkbar machen sollte.   

 

Das Schuljahr 1945/46 begann erst im Januar 1946, da die Schule bis dahin noch als Lazarett diente. Für mich war dieses verkürzte Schuljahr 1945/46 das schwerste aller meiner Schuljahre. Dazu kam, dass ich vier Jahre Englisch in nur sechs Monaten parallel zum laufenden Unterricht nachlernen musste.

 

Als ich diese Prüfung über vier Jahre Englisch Ende Juni 1946 vor der Klasse ablegte, sagte der als sehr streng geltende Englisch-Professor: „Sie wissen, dass das ein Nichtgenügend war“. Dann fuhr er fort: „Wenn Sie mir jetzt in die Hand versprechen, dass Sie über die Sommerferien weiter Englisch lernen, gebe ich Ihnen ein Genügend“. Er war ein strenger Lehrer, aber vielleicht ein noch besserer Psychologe und Pädagoge. Ich habe in den Sommerferien 1946 intensiv Englisch gelernt. Im Jahreszeugnis 1946/47 hatte ich beim gleichen Englischlehrer ein „Gut“ und bei der Matura, ebenfalls beim gleichen Englischlehrer, ein „Sehr gut“.

 

Das Hindernis, das meinem zweiten Ziel, nämlich in Wien zu studieren, im Wege  stand, schien zunächst unüberwindlich. Ich war, wie alle deutschen Flüchtlinge aus den osteuropäischen Ländern, ein Staatenloser und als solcher wäre ich beim Passieren der Demarkationslinie zwischen dem von den Sowjets und dem von den westlichen Alliierten besetzten Teil Österreichs unweigerlich nach Rumänien abgeschoben worden.

 

Ich wandte mich an den Bezirkshauptmann von Gmunden, ein Sudetendeutscher, und bat ihn um Hilfe. Er verlangte mein Maturazeugnis, welches sich dank der anspornenden Worte meines Vaters sehen lassen konnte: vierzehn Gegenstände und vierzehn Sehr Gut.

 

Damals wurden im Maturazeugnis auch die Jahresnoten der Maturaklasse angegeben. Einmalig in allen Zeugnissen von 1946 bis 1954 war in Österreich, dass der Gegenstand „Deutsch“ nicht Deutsch sondern „Unterrichtssprache“ hieß! Nach einem kurzen Gespräch über meine Person und die Beweggründe, warum ich so gerne in Wien studieren wolle, sagte der Bezirkshauptmann zu mir: „Wenn Sie mir Ihr Wort geben, dass Sie das, was ich Ihnen geben werde, nur für die Fahrt nach und von Wien verwenden werden, so lasse ich Ihnen einen Viersprachenausweis ausstellen, in dem als Staatsbürgerschaft Österreich steht“.

 

Ich gab ihm mein Wort und als ich später am 7. Oktober 1954 die österreichische Staatsbürgerschaft nach dem Optionsgesetz für Volksdeutsche bekam, bat ich neuerlich um einen Termin beim Bezirkshauptmann und gab Ihm den Viersprachenausweis (auf Deutsch, Englisch Französisch und Russisch, wie es nach dem Krieg üblich war) mit bestem Dank zurück. Diese Zivilcourage des Bezirkshauptmanns und die Handlungsweise meines Englischprofessors haben mich sehr beeindruckt und meine spätere Handlungsweise stark beeinflusst.

 

Von Oktober 1950 bis Ende Dezember 1955 studierte ich in Wien an der Technischen Hochschule Starkstromtechnik, heute würde man Energietechnik dazu sagen. Wien war auch die Stadt, in der mein Vater studiert hatte, und ich wurde auch in der Burschenschaft meines Vaters aktiv. „Student sein in Wien“, wie es in einem Studentenlied heißt, war etwas Schönes. Ich habe die Wiener Studenten- und Studienzeit sehr genossen, wenngleich das intensive und schnelle Studium, die Burschenschaft und das Geldverdienen eine große Herausforderung waren. Ab einschließlich der siebenten Gymnasialklasse habe ich mir die Schule und das Hochschulstudium selbst finanziert. Meine Eltern hätten mir das alles gern finanziert, aber es ging einfach nicht.

 

In Wien lernte ich auch meine Frau kennen, über die Burschenschaft und die vielen Bälle, die wir miteinander besuchten.

Nach vollendetem Studium wollte ich in Österreich bleiben und fing im Januar 1956 bei den Siemens-Schuckert-Werken in Wien als Projektant für elektrische Industrieanlagen an. Ich musste aber bald feststellen, dass man mit dem Gehalt eines jungen Diplomingenieurs eine Familie nicht erhalten konnte und dass man ohne Beziehungen, ohne Parteizugehörigkeit und ohne Gewerkschaft zu keiner preiswerten Wohnung gelangen konnte.

 

So wechselte ich, wie auch viele meiner Studienkollegen, zu Siemens nach Westberlin, wo ich genau das doppelte Monatsgehalt bekam und nach nur einer einjährigen Wartezeit in eine Neubauwohnung einziehen konnte. In Berlin arbeitete ich im Dynamowerk (ein Werk für Großmaschinen ) als Berechnungs-, Entwicklungs- und Prüffeldingenieur.

 

Am 4. Oktober 1958 haben wir in Steyr in Oberösterreich geheiratet. Meine Frau Ute, geb. Walchshofer, kommt aus dem Ennstal. Ihr Vater war Forstmeister in Großraming im Ennstal. In Berlin kamen unsere drei ältesten Kinder auf die Welt, Gerda 1961, Torsten 1964 und Silke 1966. Unser viertes Kind, Jörn, wurde fünf Jahre später, also 1971, bereits in Linz geboren.

 

Ursprünglich wollten wir nur drei bis vier Jahre in Berlin bleiben. Es wurden dann aber über dreizehn Jahre, schöne Jahre, wie ich heute rückblickend feststellen kann. Wir haben spannende Zeiten erlebt, wie z.B. den Mauerbau am 13. August 1961, aber im Großen und Ganzen lebte es sich in Berlin mit seinen vielen Seen und Grünflächen sehr gut. Mühsam und ärgerlich waren lediglich die Fahrten durch die Zonengrenzen. Unsere Erfahrung mit den Berlinern: es waren sehr nette, aufrichtige, pflichtbewusste und hilfsbereite Zeitgenossen.

 

Anfang 1970 bekam ich ein gutes Berufsangebot bei der Elektro-Bau-AG in Linz als Prüffeld- und Fertigungsleiter. So sind wir im Sommer 1970 nach Linz übersiedelt.  

 

Im September 1973 wechselte ich in den Staatsdienst und war bis Ende 1982 Professor für elektrische Maschinen an der Höheren Technischen Bundeslehranstalt, heute Technikum genannt, in Linz. Vom 1. Januar 1983 bis Ende Februar 1997 war ich Direktor dieser Mammutanstalt. Mammutanstalt deshalb, weil es zwei Schulen unter einer Direktion waren; eine Tagesschule für die Fünfzehn- bis Zwanzigjährigen mit etwa 1000 Schülern und eine Abendschule für die Berufstätigen (zweiter Bildungsweg) mit ebenfalls rund 1000 Studierenden. Die Größe des Lehrkörpers schwankte zwischen 210 und 215.

 

Irgendwie lag mir der Lehrberuf, aber später auch das Schulmanagement. Ich war sehr gerne Lehrer, und es waren für mich schöne Zeiten. Ich habe mich nie überfordert gefühlt oder gar unter einem Burnout-Syndrom gelitten.

 

Meine Tätigkeiten im Schuldienst wurden auch rein äußerlich honoriert: 1989 durch die Verleihung des Hofrat-Titels und 1997 durch die Verleihung des Großen Ehrenzeichens für die Verdienste um die Republik Österreich durch den Bundespräsidenten.

 

Ein wichtiges Datum für meinen Lebenslauf ist der 18. Dezember 1970, der Tag meiner Promotion zum Doktor der technischen Wissenschaften (Dr. techn.) an der Technischen Universität in Wien. Während meiner Berliner Zeit hatte ich an einem Entwicklungsprojekt gearbeitet, über welches ich nachher meine Dissertation geschrieben habe. Allerdings hat das alles in allem sieben Jahre gedauert, während ich meinen Dipl.-Ing. in fünf Jahren und zwei Monaten geschafft hatte.

 

Als besonders schön ist mir in Erinnerung, wie wir meine Promotion gefeiert haben: auch meine damals fast zehn Jahre alte älteste Tochter Gerda war mit zur Promotion gekommen und am Abend gingen wir alle in die Wiener Staatsoper, wo Fidelio von L. v. Beethoven gegeben wurde.

 

Am 1. März 1997 bin ich in den Ruhestand getreten.

 

Wenn ich heute auf mein über achtzigjähriges Leben zurück blicke, so beginnt es mit einer wunderschönen Kindheit in Mediasch und Bistritz, gefolgt von einem tiefen Absturz gegen Kriegsende und gleich nach dem Krieg. Aber dann ging es kontinuierlich bis heute nur aufwärts, und zwar alles mit eigener Kraft, keine Erbschaften, keine Zuwendungen oder sonstige Unterstützungen. Ich möchte die schweren und entbehrungsreichen Nachkriegsjahre nicht missen. Ich habe dadurch vieles für mein späteres Leben gelernt. Ja, ich möchte sogar behaupten, dass wir eine schönere Jugend hatten als die Jugend heute: wir hatten ein Ziel, wir wollten etwas leisten und aufbauen und vor allem: wir konnten uns schon über Kleinigkeiten freuen. Wir lebten bescheidener, aber intensiver.

 

Zu Reichtum habe ich es nicht gebracht. Nicht einmal zu einem eigenen Haus; in Linz wäre uns ein Haus zu teuer gekommen und außerhalb Linz wollten unsere Kinder nicht. Wir haben aber eine große Eigentumswohnung, in der jedes Kind ein eigenes Zimmer hatte, und jedem Kind konnten wir ein auswärtiges Studium finanzieren. Natürlich ist diese Wohnung für meine Frau und mich jetzt zu groß; wenn aber eines oder gleich mehrere unserer zwölf Enkelkinder auf Besuch kommen, dann sind wir über die große Wohnung doch sehr froh.

 

Der Verlust meiner siebenbürgischen Heimat und die Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg stellen für mich eine traumatische Dauerbelastung dar. Ich bin deutsch erzogen worden und ich denke und fühle deutsch. Trotzdem glaube ich, dass es nur eine Lösung gibt, um aus dieser Spirale der Gewalt, die den Frieden einzelner Länder und vielleicht auch den der ganzen Welt gefährdet, heraus zu kommen. Diese Lösung heißt für mich: Verzeihen und Vergeben, aber in Gerechtigkeit. Wir müssen uns überwinden, auch jenen zu vergeben und zu verzeihen, die Gewalt und Unrecht an uns getan haben. Dies darf aber keine Einbahnstraße sein, d.h. es muss auf Gegenseitigkeit beruhen und nach beiden Seiten hin gerecht sein.

 

Linz, am 23. Juli 2011